Harry Graf Kessler
»Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Sehr unerquickliches politisches Gespräch, das sie herbeiführte, indem sie sagte, sie fürchte für mein Leben von Seiten der Bolschewiki, ›die ja auch Rathenau hätten ermorden lassen‹. Dieser absurde Unsinn, den Ludendorff in einem Interview im ›Daily Express‹ vor einigen Tagen zuerst in die Welt gesetzt hat, ist für sie eine nicht anzuzweifelnde Tatsache, denn ›der Meuchelmord sei keine deutsche Sache‹.
Also wird diese abgeschmackte Lüge jetzt bei alten deutschnationalen Damen propagandistisch verbreitet, um die Mordschuld abzuwälzen! Ich sagte ihr meine Meinung, was zu einer ziemlich erregten Auseinandersetzung führte, ohne sie im geringsten in ihrem Glauben an die Reinheit der deutschnationalen Seele und die kommunistische Urheberschaft des Rathenaumordes zu erschüttern.
Ich führte dagegen unter anderem an: Erstens, daß die Rechtsradikalen bisher fünfhundert Morde an Linksstehenden seit der Revolution vollführt hätten. Seien diese alle kommunistisch oder bolschewistisch inspiriert? Zweitens, daß noch kein einziger bolschewistischer Provokateur zu Rechtsmorden festgestellt, ja, auch nur benannt worden sei. Drittens, daß dann auch die zahlreichen Waffenlager des ›Deutschen Schutz- und Trutzbundes‹, der ›Organisation E‹ usw. auf bolschewistische Anregungen zurückzuführen sein müßten, da sie ja auch auf die Absicht zu Gewalttaten und Morden schließen ließen.
Man schämt sich, solche Absurditäten widerlegen zu müssen. Die gute alte Dame spricht von den Rechtsradikalen nur als ›Wir‹! Zum Schluß bat sie mich aber doch, Harden (den ich vorigen Mittwoch in der Klinik besucht habe) zu grüßen; es kam allerdings ziemlich kühl und gezwungen heraus.«