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Erich Mühsam

05. November 1919

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05. November 1919

Erich Mühsam

»Jeder Tag bringt neue Schikanen. Mein Manuskript habe ich zurückerhalten, bis auf die letzten 3 Seiten, die einfach zu den Akten gelegt sind. Mein Geld wird mir weiterhin vorenthalten. Auf dem Gang wird das Fenster jetzt mit einem feinen Drahtnetz versperrt, vielleicht werden unsre Zellen noch ähnlich verziert. Den Herren genügt die einfache Vergitterung nicht allein. Heut kam die Mitteilung, daß uns von jetzt ab auch nachts das Licht von außen abgedreht werden wird. Bis jetzt blendeten wir von 11 Uhr ab, wenn die Türen verriegelt werden, einfach die Fenster ab. Es war uns zugesichert worden, daß unserm Bedürfnis, nachher noch zu lesen oder zu schreiben, einsichtsvoll Rechnung getragen werden sollte. Das ist jetzt auch vorbei. Wenn wir jetzt nachts irgendein Bedürfnis haben, können wir in der versperrten Zelle nicht mal mehr Licht machen. Denn Kerzen gibt es längst nicht mehr. Der Anwalt hat mich leider ganz im Stich gelassen. (...)

Man hat Furcht vor dem 7. und 9. November und will die Revolutionäre an Reisen verhindern, oder aber einen Putsch von rechts vorbereiten. (...)

Hugo Haase, "Der Weltspiegel" vom 16. 11. 1919

Hugo Haase, "Der Weltspiegel" vom 16. 11. 1919

Ein Zufallsereignis kann genügen, um Deutschland vollends in Aufruhr zu jagen, da die ökonomische Lage hinlänglich vorbereitet ist. Das Attentat auf Haase kann vielleicht in seinen Folgen das auslösende Moment sein. Ob wirklich sein Mörder nur den Rechtsanwalt, nicht den Politiker treffen wollte, ist mir sehr zweifelhaft. Der Fall kann möglicherweise so ähnlich liegen wie seinerzeit bei der Ermordung der Kaiserin Elisabeth durch den Anarchisten Luccheni in Genf, den mir nahe Bekannte des Mörders später erklärt haben. Luccheni war Anarchist, aber ein ziemlich unklarer Kopf, allen Kameraden sehr unsympathisch und stand im Verdacht der Spitzelei. An der Ermordung der Frau waren ganz andre Kreise als anarchistische, vor allen nämlich klerikale Kreise interessiert. So wird der arme dumme Teufel von Jesuiten auf die Gelegenheit aufmerksam gemacht sein, daß er sich da als richtiger Anarchist beweisen kann, und Luccheni tat’s, um sich vor seinen Genossen zu rechtfertigen. So wäre es denkbar, daß der verärgerte Voß von Konservativen auf Haase gehetzt wurde, die umso eher die Hände in Unschuld waschen können, als der Täter politisch radikale Tendenzen zu verfolgen vorgibt. Aber daß man zuerst aus der Verwundung eine harmlose Geschichte zu machen versuchte, die sicher in 8 Tagen kuriert wäre, beweist doch, daß man vertuschen wollte. Nun ist das Bein amputiert und der Zustand Haases ist höchst bedrohlich. Stirbt er, so kann sein Tod Anlaß zu Aufregung grade bei den Unabhängigen geben, die dadurch leichter zu gemeinschaftlicher Aktion mit den Kommunisten gelangen könnten. Sicher ist, daß die Luft geladen ist mit Gewitter und Sturm.«

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25. Oktober 1919

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25. Oktober 1919

Erich Mühsam

»Generalreinigung des Körpers, der Wäsche, der Utensilien und der Zelle. Noch juckt mir die Haut, aber ich hoffe, die Parasiten mit ihren Eiern und Keimen werden hin sein. Bemerkenswert war die Haltung des Anstaltsarztes. Ich zeigte ihm das Betttuch, das man mir, nachdem ich als Ursache der Plage Läuse erkannt hatte, frisch aufgezogen hatte: die kalten Bauern ganzer Divisionen waren als Landkarte zölibatischer Sehnsüchte darauf abgezeichnet. Eine unglaubliche Sauerei. Der würdige Mann erklärte, man könne jetzt trotz allen Waschens solche Spuren nicht vertilgen, schwieg aber auf meine Frage, ob er sich etwa im Hotel auf solche Erklärung hin in ein derartiges Bett legen würde. Tags drauf hatte ich ein andres Laken: blitzsauber. Es ging also, obwohl man mir versichert hatte, die Wäsche sei extra ausgesucht worden, reinere sei nicht da. Der Arzt, auch einer, dem das Dekorum der Anstalt höher steht als die Gesundheit seiner Patienten, suchte mir nachträglich weiszumachen, daß er nur Stockflecken aber keine Sexualspuren gesehn habe. (...)

Graf Bernstorff (links) nach seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuß ("Zeitbilder" vom 26.10.1919)

Graf Bernstorff (links) nach seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuß ("Zeitbilder" vom 26.10.1919)

Inzwischen tagt in Berlin der parlamentarische Untersuchungsausschuß zur Feststellung von Kriegssünden. Regierungsbonzen und Unabhängige hocken in tiefen Überlegungen beisammen, ziehn Leuten wie Bernstorff die Würmer aus der Nase und glauben, die „Feinde“ werden diese Affenkomödie ernst nehmen und womöglich Deutschlands „größte Schmach“, die Auslieferung Wilhelms, Rupprechts, Ludendorffs (und wohl auch der kleinen Halunken wie von der Pfordten e tutti quanti) in der Erwartung abstellen, daß die herrliche Republik selbst Gerechtigkeit zu üben wissen wird. Währenddem wütet Noske, dieses Phänomen an Rohheit, Gewissenlosigkeit, Brutalität und Anmaßung, mit weißen Garden, Streikbrecherkolonnen, Zensurverboten, Verhaftungen und allem dem abenteuerlichsten Kosakenzarismus entlehnten Regierungsfolterwerkzeug wie ein Tobsüchtiger unter Betschwestern. Alle Welt blickt erstaunt, angeekelt und tief empört auf Deutschland. Das Volk aber betet und arbeitet und glaubt seinen korrupten Zeitungsschmierern.«

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13. Oktober 1919

13. Oktober 1919

»In der Welt gehts amüsant genug zu. Das Abenteuer im Baltikum nimmt immer groteskere Formen an. Die Entente treibt eine sehr kluge Politik zugleich gegen die Deutschen und gegen die Bolschewiki. Nachdem sie gemerkt hat, daß die Lakaien der preußischen Junker, die Noske und Gelichter, ihren „Ostschutz“ als Sammelkessel konterrevolutionärer Kriegstruppen benutzten, forderten sie die Rückberufung des ganzen in Kurland und Lettland kämpfenden Heers. Herr v. d. Golz trieb aber Politik auf eigne Faust. Mit stillem Einverständnis der Regierung betrieb er die Unbotmäßigkeit der Truppen, und nun wo die Alliierten Ernst machen, haben sie die Zügel nicht mehr in der Hand. Der Führer der „Eisernen Division“, ein Major Bischoff hat sich mit seinen Truppen unter die russische Flagge gestellt und fühlt sich als York II. Die konterrevolutionären Truppen Rußlands unter Bermondt-Awaloff kämpfen nun im Bunde mit Deutschen gegen Bolschewisten einerseits und Letten andrerseits. Er ist im Begriff, Riga zu nehmen. Der Angriff gegen Riga aber hat die Entente veranlaßt, die ganze Ostsee zu blockieren. Zugleich „bittet“ sie Deutschland, die Grenzen gegen Sovjet-Rußland zu sperren, und die „Sozialisten“ in Berlin werden diesen Verrat gegen alle Revolution selbstverständlich ebenso gehorsam begehn, als wenn er von preußischen Generälen käme. Sie, die selbst blockiert sind, müssen zugleich ihre Hungerpeitschenschwinger mit der Hungerpeitsche gegen die Russen unterstützen. Nie ist ein Volk so entehrt gewesen wie das deutsche Volk jetzt, da es von „Sozialisten“ um die Revolution geprellt wird. Aber: je ärger es kommt, umso sicherer naht unsre Stunde. Möge sie uns bereit und stark finden!«

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27. September 1919

27. September 1919

Titelblatt "Vossische Zeitung" 14.09.1919

Titelblatt "Vossische Zeitung" 14.09.1919

»Längst wollte ich hier über die Dinge der Welt schreiben, denn es ist unglaublich, daß ich die Ereignisse in Rußland, die Frage wird sich die Sovjetrepublik halten oder nicht?, die allgemeinen Aussichten der Weltrevolution – Streikbewegungen in Amerika und Italien – und das halb groteske halb großartige Unternehmen d’Annunzios gegen Fiume, hier in all diesen Wochen garnicht gestreift habe. Aber auch heute komme ich über eigenem Erleben nicht zur Weltgeschichte. Dabei stören mich fortgesetzt die Genossen, und ich weiß nicht, ob ich nicht in 2 Minuten meine kleine Bude wieder voll Besuch habe.

Die letzten Sonntag hier geäußerten Befürchtungen, daß die hohe Justizbehörde die Eichstätter Flucht zum Anlaß neuer Niederträchtigkeiten machen werde, sind Wahrheit geworden. Um zunächst über die Eichstätter Sache selbst zu reden, so hat mir Ernst Ringelmann darüber genauere Mitteilungen gemacht. 5 Genossen waren beteiligt, darunter auch Ernst, wie ich vermutet hatte, ferner Mairgünther, Günther, Daudistl und der einarmige Wiedemann. Mairgünther, Günther und Daudistl waren schon über die Mauer, und Ernst in seiner Gutmütigkeit war noch Wiedemann behilflich, um dem Krüppel hinaufzuhelfen. Aber ein zu Zuchthaus verurteilter Gefangner schlug Lärm, ein Aufseher beleuchtete die Szene, schoß und den Beiden blieb nichts übrig als sich zu ergeben. Daudistl kam zurück, weil er seine Schuhe nicht im Stich lassen wollte, die beiden andern entkamen. Den Esel Mairgünther hat man inzwischen in München(!) wieder festgenommen und zugleich noch 4 Kommunisten. Sie rennen den Schergen direkt in die Hände.«

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19. September 1919

19. September 1919

Erich Mühsam

»Gestern ist im Seidelprozeß das Urteil gesprochen worden. Doppelte Todesstrafe gegen Seidel und Schickelhofer, einfache Todesstrafe gegen 4 weitere Angeklagte, 3 Freisprüche und gegen die übrigen je 15 Jahre Zuchthaus. Nie ist ein Tendenzprozeß tendenziöser durchgeführt worden als dieser. Ganz vom Staatsanwalt (Hoffmann heißt die Kanaille) abgesehn, der wahrhaft sadistisch sein Amt versah, ist der Verhandlungsleiter, ein Oberlandesgerichtsrat Aull, der auch den Vorsitz im Axelrodprozeß führte, nur von Rachsucht und Haß gegen die Angeklagten erfüllt gewesen und hat sie, statt unvoreingenommen über ihre Schuld oder Nichtschuld Beweis zu erheben, von Anfang an als überführt behandelt. Die Ladung von Entlastungszeugen wurde grundsätzlich abgelehnt, die Presse und das Gericht leisteten gemeinsame Hetze. Theodor Liebknechts Versuche, die psychologischen Zusammenhänge zwischen der Erschießung der sogenannten Geiseln und der vorhergehenden Ermordung von Rotgardisten, roten Sanitätern und revolutionären Arbeitern vor Augen zu führen, scheiterten durch die infame Prozeßführung. (...)

Wahlkampfplakat 1919, wohl von der Bayerischen Volkspartei, das das Ende der Münchner Räterepublik unter dem Motto "bei uns gibts koa` Anarchie!" thematisiert. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Plakatsammlung)

Wahlkampfplakat 1919, wohl von der Bayerischen Volkspartei, das das Ende der Münchner Räterepublik unter dem Motto "bei uns gibts koa` Anarchie!" thematisiert. (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Plakatsammlung)

Ich selbst bin allmählich, sehr im Gegensatz zu meiner Vergangenheit, soweit, daß ich die grundsätzliche Abkehr vom Blutvergießen nicht mehr verantworten kann. Die Reaktion hat uns gezeigt, wie gearbeitet werden muß, um die Gegner klein zu kriegen. Wir sind durch unsre Menschlichkeit verantwortlich geworden an all dem Blut und Jammer in Baiern. Wenn Noske sich jetzt zu der Anschauung bekannt hat: er wolle immer wieder das Leben von ein paar Tausend Tollköpfen opfern, um Hunderttausenden von Bürgern die Ruhe zu sichern, so müssen wir sagen: besser das Leben einiger tausend Konterrevolutionäre aufs Spiel setzen als Hunderttausende Proletarier umbringen lassen.«

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11. September 1919

11. September 1919

»Abschrift. „Erklärung. Seit fast 20 Jahren bekenne ich mich zu den Lehren und Forderungen des kommunistischen Anarchismus. Mein politischer Kampf galt, lange ehe an Weltkrieg und Weltrevolution zu denken war, der Vorbereitung der sozialen Revolution mit den Mitteln der direkten Aktion, wie sie besonders von Michael Bakunin gelehrt worden sind. Meine Gegnerschaft gegen den von Kautsky ausgedeuteten Marxismus richtet sich im Wesentlichen auf die Bekämpfung der parlamentarischen Betätigung des Proletariats, der opportunistischen Anbiederung an die kapitalistische Gesellschaft und des grundsatzlosen Paktierens mit der Bourgeoisie, die die Politik der Sozialdemokratie Jahrzehnte lang charakterisiert haben. (...)

Michail Alexandrowitsch Bakunin (Foto: Félix Nadar)

Michail Alexandrowitsch Bakunin (Foto: Félix Nadar)

Karl Kautsky (1884-1938)

Karl Kautsky (1884-1938)

Das Erlebnis der Revolution öffnete einem großen Teil der ausgebeuteten Klasse die Augen über die verfehlte Politik der Sozialdemokratie, deren Konsequenz sich in dem verräterischen Verhalten ihrer offiziellen Vertretung während des Krieges geoffenbart hatte. Die vorbildliche Leistung der Bolschewiki in Rußland und ihr in der Revolutionsgeschichte aller Zeiten beispielloser Erfolg gab denen Recht, die das Heil des Weltproletariats in der Übernahme der legislativen und exekutiven Gewalt in die Hände der werktätigen Massen selbst erblickten. (...)

Als sich in Deutschland die kommunistische Partei konstituierte, habe ich mich bemüht, in engster kameradschaftlicher Nachbarschaft mit ihr zu wirken, bin vielfach als Referent in ihren Versammlungen aufgetreten und habe ihr, ohne noch direkt für sie zu werben, in Vorträgen in und außerhalb Münchens tausende von Mitgliedern zugeführt. Selbst der Partei beizutreten, konnte ich mich, trotz der vollständigen Übereinstimmung in den Kampfprinzipien, bisher nicht entschließen, weil ich nie einer Partei angehört habe und die anarchistische Vergangenheit nicht verleugnen wollte. – Der Verlauf der Revolution, ihre zeitweise Niederwerfung durch die vereinigte Macht der militaristischen, kapitalistischen und sozialpatriotischen Konterrevolution hat mich zu einem andern Entschluß gebracht. – Ich vollziehe hiermit meinen Eintritt in die kommunistische Partei Deutschlands. (...)

Wir Anarchisten werden unsern Mann stellen, und der Zustrom an Kampf und Verfolgung gewöhnter Rebellen wird die Tatkraft der Partei befeuern und sie vor Verknöcherung und Verbonzung dauernd bewahren. – Es lebe die Weltrevolution! – Es lebe die dritte Internationale

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03. September 1919

03. September 1919

Erich Mühsam

»Gepackte Körbe und Schachteln, wildes Durcheinander in allen Zellen – soweit sie noch Inwohner beherbergen. Das sind noch 18. Davon gehn 11 morgen früh weg, und dann am Samstag geht der letzte Transport weg, zu dem auch ich gehöre, in die „Festungshaftanstalt“ Ansbach. Am Montag früh verließen uns die ersten 10 Genossen. Sie kamen nach Lichtenau. Man hatte die den Herren als Harmloseste scheinenden zusammengestellt. Von meinen näheren Kameraden waren Hohenester und Oblinger dabei, liebe Kerle von meiner Münchner Leibgarde. Dann folgte gestern früh der zweite Transport, der nach Eichstätt ging und aus Großkalibrigen zusammengesetzt war: Niekisch, Klingelhöfer, Knieriemen, Bedacht, Daudistl, sonderbarerweise auch einer der Allerschwersten: Sauber, ferner Hartig, Wenisch, und Ernst Ringelmann. Wie schwer mir der Abschied von dem Jungen geworden ist, kann ich nicht beschreiben. Mein Ehrgeiz war, grade diesen Menschen in persönlicher dauernder Einwirkung zu einem, vielleicht zu dem Revolutionär zu machen, auf den das Land wartet, den es braucht, der es retten soll. Ernst hat alles Zeug, das zu werden, vor allem Begeisterung, Hingabe, Charakter. Ich lese eben wieder Bakunins Lebensgeschichte. Da ist das Vorbild, dem auch ich nachstrebe mit aller Wucht meines Wollens. Ein Psychiater würde mich jetzt wohl als Monomanen bezeichnen. Ich kann und mag nichts andres mehr im Herzen und im Hirn haben als Revolution. Wie weit liegt alle Literatur, aller Theaterquark hinter mir! Revolution ist das Einzige, was ich denke und fühle – und Vorbereitung dazu im Geiste, Einwirkung auf die Genossen zur Vorbereitung dessen, was beim nächsten Mal geschehn muß, welche Fehler wir vermeiden, welche Lehren wir aus der verlorenen Schlacht zu ziehn haben. (...)

Die beiden nächsten Tage werden wir letzten 7 nun ganz allein durch die öden Hallen des Zellengefängnisses irren: Hagemeister, Waibel, Olschewski, ich, Förster, (leider) Westrich und Gnad. Daß wir vier ersten in Ansbach zusammen sein werden, ist uns ein großer Trost. Auch Förster ist ein tüchtiger Kerl. Aber Westrich ist ein reicher Bourgeois, der als Korpssoldatenrat ohne viel eignes Zutun zu seinen sechs Jahren gekommen ist. Wir lieben ihn alle nicht, aber man muß sich abfinden. Ob auch Gnad mit uns Ebrach verlassen wird, steht noch nicht fest. Man scheint eine unglaubliche Niederträchtigkeit gegen ihn vorzuhaben. Der jetzt 30jährige Gnad war vor 10 Jahren mein Hörer in der Gruppe Tat. Das war ein Treffpunkt vieler Entgleister und Verzweifelter, Zuchthäusler, Arbeitsscheuer etc., der sogenannten „Elemente“, wie die moralischen Revolutionäre sich ausdrücken, in Wahrheit solche, die sich in dem wahnsinnigen ekligen Betrieb der kapitalistischen „Ordnung“ nicht zurechtfinden. (...)

A. Weisgerber: Margarete Weisgerber (um 1910/Wikipedia/CC BY-SA 3.0)

A. Weisgerber: Margarete Weisgerber (um 1910/Wikipedia/CC BY-SA 3.0)

Vielleicht komme ich morgen zu weiterer Eintragung. Heut hab ich nach einem kleinen Gelage, das ich Grete Weisgerber danke, etwas Brummschädel. Die hat mir nämlich drei Flaschen Wein gesandt und etliche Zigarren (wieviel liebes Gedenken offenbart sich jetzt überhaupt in gelegentlichen Sendungen) geschickt, und den Wein haben gestern Olschewski und ich ganz allein und hintereinander weggetrunken. Der kleine Schwips nach 4½ Monaten Askese hat mich – trotz der geringen Katerwirkung – wirklich aufgefrischt. Aber wann werde ich meine Freiheit mit Wein begießen dürfen? Hoffentlich nicht, ehe sie nicht auch die Freiheit des Volks ist.«

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08. August 1919

08. August 1919

»Die Revolution hält Pause. In Ungarn wütet der weiße Schrecken. Dort wird „standrechtlich gehängt“, offenbar in großem Maßstabe. Dabei hat die „rein sozialistische“ Regierung, die als Quartiermacher der Reaktion Bela Khuns Arbeit zu zertrümmern hatte, schon wieder abgedankt. Die Rumänen sind in Budapest eingerückt und spielen sich als die Sieger auf. Auch Engländer und Franzosen sollen eingezogen sein, und heute wird gemeldet, daß als Gouverneur des Landes ein Erzherzog Josef eingesetzt sei. Also jetzt schon Habsburg redivivus. Das kann uns recht sein. Denn grade eine solche unerhörte Provokation muß Ressentiments schaffen, die die Grundlagen der neuen Macht von Anfang an erschüttern. Bei uns macht Noske die Vorarbeit des letzten Umsturzes. Vor einigen Tagen war er in München und hat dort seinen begeisterten bourgeoisen Gläubigen versichert, für den Fall, daß sich in Bayern ein neuer Umsturz vollziehn würde und etwa „Mühsam oder Niekisch“ an die Spitze träten, müßte die Reichsexekutive eingreifen. Aber schon jetzt muß er eine halbe Million Mann seiner „Reichswehr“ entlassen, um den Versailler Bedingungen Rechnung zu tragen (ich bin allerdings der Überzeugung, daß man grade in punkto Heeresstärke versuchen wird, die Entente und das deutsche Volk zu beschwindeln). Zur Zeit sieht es für die Revolution bei uns trübe aus. Aber verloren gehn kann sie uns nicht.«

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31. Juli 1919

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31. Juli 1919

Erich Mühsam

»Genosse Sporer, dessen Braut ihrer Niederkunft sehr bald entgegensieht, wird hier Hochzeit machen. Das Vergnügungskommissariat ist mit den Vorbereitungen betraut, und wir hoffen, daß das originelle Milieu dem Akt schöne Weihe geben wird.

"Die Neue Zeitung" vom 26.07.1919

"Die Neue Zeitung" vom 26.07.1919

Inzwischen geht der Lauf der Weltgeschichte draußen weiter. (...) In Deutschösterreich hat der bisherige Ministerpräsident Bauer, ein deutschunitaristischer Sozialdemokrat, demissionieren müssen. Das ist ein großer Sieg der Entente. Ich für meinen Teil begrüße ihn, weil ich mir von einer immer weiteren Ausdehnung der Zentralisation gar keinen Segen verspreche. Die Staaten sollen endlich mal entstaatet werden. Statt dessen erweitert man ihre Grenzen und nimmt damit ihren Einwohnern immer mehr von ihrer Selbständigkeit und Eigenart. Beispiel: Bayern, das durch die Aufgabe der eignen militärischen Organisation und durch den Verzicht auf eine große Reihe andrer Reservatrechte, sogar der eignen Finanzhoheit nur noch nominell etwas andres ist als eine preußische Provinz. Der selige Dr. Sigl muß im Grabe rotieren!

Anton Graf von Arco auf Valley

Anton Graf von Arco auf Valley

"Vossische Zeitung" vom 21.02.1919

"Vossische Zeitung" vom 21.02.1919

Heute habe ich von Angesicht zu Angesicht einen berühmten Raubmörder gesehn. Als wir zum Brausebad ins Zuchthaus geführt wurden, stand in einem Hof, in den wir vom Fenster aus hineinsehn konnten, der Renommiermörder der Ebracher Anstalt, Weißkopf. Der Kerl hat mehrere Leute umgebracht. Er war in einer ganz gräßlichen Zelle unsres jetzigen Festungsgebäudes untergebracht gewesen, die jetzt von unsrer Küchenverwaltung unter Saubers Leitung benutzt wird (...) Aus dieser Zelle ist Weißkopf ausgebrochen – und zwar durch den Fußboden hindurch. Er kam ins Freie, beging wieder einen Mord, wurde wieder ergriffen, wieder zum Tode verurteilt, wieder zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe „begnadigt“ und stand nun heute, die Hände auf den Rücken gefesselt, im Zuchthaushof. Ein stämmiger, intelligent aussehender, älterer Mann, der freundlich lachend mit dem Wärter sprach. Ich dachte, als ich ihn sah, an den armseligen Grafen Arco in Stadelheim, den Mörder aus verirrtem Heroismus. Welcher Unterschied!«

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14. Juli 1919

14. Juli 1919

Erich Mühsam

»Hundertunddreißigjähriger Gedenktag des Bastillesturms. Allerlei vergleichende Betrachtungen drängen sich auf. Die tröstlichste davon ist die, daß wir erst 8 Monate Revolution hinter uns haben und die Konterrevolution schon am Anfang erleben. Die französische dauerte 26 Jahre und endete mit der Reaktion. Die Hoffnung, daß es in Deutschland umgekehrt gehn wird und wir zuletzt lachen werden, ist also begründet. Die ersten Presseäußerungen über den Ausgang des Prozesses brachte mir Zenzl mit dem Mittagessen – leider habe ich sie selbst seit der Verurteilung noch nicht sprechen dürfen. Münchner Post und Münchner Zeitung bringen einen gleichlautenden Korrespondenzbericht, in dem eine charakteristische Fälschung festzustellen ist. Im Tenor wurde mir nachgesagt, ich hätte meine Überzeugung zeitlebens ehrlich, wenn auch „mit einem an Psychopathie grenzenden Fanatismus“ verfochten (das war der wörtliche Ausdruck, den ich mir mit absoluter Bestimmtheit gemerkt habe).«

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03. Juli 1919

03. Juli 1919

»Folgender Kassiber wurde mir gestern von einem Gefangenen zugesteckt: „Hochachtung Herrn Mühsam! Teile Ihnen mit, daß Toller am 15. Juli zur Verhandlung kommt. Gustav Landauer wurde am 2. Mai hier in Stadelheim erschossen. Ich selbst trug Landauer ins Leichenhaus. Der Zahlmeister sagte: Dieser polnische Jude wollte hier in Bayern regieren? Ein Schriftsteller wurde am 2. Mai erschossen. Nach dem Tod wurden ihm seine neuen Schuhe von einem Unteroffizier ausgezogen. Weiße Garde? Der Zahlmeister stand daneben. Später seine Hose und seine Strümpfe wurden ihm auch ausgezogen. Eine Schande, wie man mit den Leichen hier umging. Hochachtungsvoll“ (Ich habe die Orthographie verbessert). So wurde in Bayern „Ruhe und Ordnung“ hergestellt. Ich mag nicht dran denken. Der Gedanke an Landauers schreckliches Ende läßt mich nicht mehr los. Und an der Stätte seiner Ermordung eingesperrt zu sein! – Mir gehts nicht sonderlich mit der Gesundheit. Heut war ich beim Arzt und habe mir Brom verordnen lassen, da ich keine Nacht schlafen kann. So hoffe ich, daß ich am Montag wenigstens ausgeruht vor Gericht erscheinen kann.«

23. Juni 1919

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23. Juni 1919

Erich Mühsam

»Zwei Pakete auf einmal: von Zenzl, bzw. ihren ländlichen Verwandten, kamen 2 Weißbrote und 1 Pfund Speck, ferner eine Tube Biox (ich weiß mich vor Brot nicht mehr zu retten und werde eine große Verteilung unter den Kameraden arrangieren lassen, die auch von dem Kuchen abhaben sollen, der zugleich von Mila kam. In deren Paket fand sich eine große Dose Marmelade, Briefpapier mit 20 Kuverts (die leider mit Marmelade durchtränkt und also unbrauchbar eintrafen), Tabak und Zigarren. Nun bin ich wieder mit allem zum Leben wichtigen versehn und kann den Dingen, die da kommen, leichteren Herzens entgegensehn. Was besonders Speck und Brotaufstrich bedeuten, kann nur ermessen, wer derlei Herrlichkeiten lange entbehren mußte.«

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16. Juni 1919

16. Juni 1919

Erich Mühsam

»Politisch wenig Neues. Ein angeblicher Polenputsch in Oberschlesien, bei dem schwer zu erkennen ist, ob Separationsbestrebungen die Ursache sind, oder Regiekunststücke alldeutscher Kriegstreiber, die der Armee Haller die Durchfahrt mit künstlichen Gründen sperren möchten. Im übrigen geht das betrübliche Hoffen und Harren weiter: wann wird die Entente auf die deutschen Gegenvorschläge antworten und wie wird sie antworten? Unterzeichnen oder Verweigern? Einmarsch oder Entgegenkommen? Und weiter: ein ängstliches Gegacker der Zeitungen, die nicht wissen, ob sie den Streik in Frankreich und Italien und die Gärung in England den armen Spießern als fröhliches Vorzeichen naher Revolutionen frisieren sollen, die Deutschland die Bahn zu neuen Heldentaten à la Ösel und Riga frei machen können, oder ob sie lieber dämpfen sollen, um den Sieg des Bolschewismus in aller Welt nicht gar selbst in die Bürgerheime hineintrompeten zu müssen.«

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